Do not spray my Beta! – Bouldern mit Fingerspitzengefühl
Klettern ohne Sicherung in Fallhöhe: Bouldern ist seit längerem schon nicht mehr eine Vorbereitung auf das Klettern am Seil oder am Fels, sondern hat sich ein eigenes Standing erarbeitet. Für alle, die Bouldern schon mal ausprobiert haben, bleibt vermutlich vor allem die Erinnerung an einen heftigen Muskelkater. Toni hat sich daran schon längst gewöhnt.
Bevor sie loslegt, knackt sie zweimal mit dem Nacken. Links, rechts, strafft die Schultern. Atmet einmal ein und aus. Dann greift sie die ersten beiden Griffe der Route, die sie sich für heute vorgenommen hat und schwingt sich mit einem Ruck in die erste Position. Es ist ein relativ hohes Level, nichts was sie nicht schon erklettert hätte; die Leute ringsum gucken so, als würden sie das bezweifeln, aber das ist ihr jetzt egal. Griff für Griff arbeitet sie sich nach oben. Dann plötzlich ist der nächste Griff viel zu weit weg, um dran zu kommen. Sie hält kurz inne, überlegt, versucht sich umzublicken. Eine Person von unten ruft irgendwas, zeigt irgendwo hin. Toni schaut kurz nach unten, der Griff wird zunehmend anstrengender, sie will gerade ansetzten zu antworten, da verliert sie den Halt.
„In solchen Situationen bin ich schnell verunsichert und weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Ich will ja auch nicht unfreundlich sein, auch wenn ich den Tipp gar nicht will. Aber wenn man wirklich gerade an der Tour ist, gerade in der Situation, wo du unter Druck bist, ist das etwas, was mich dann ziemlich nervt“, sagt Toni später.
„Teilweise einfach keine sinnvollen Tipps”
Toni ist Studentin in Göttingen und geht zusammen mit Hannah, einer Freundin, regelmäßig im RoXx bouldern. Die Sportart, seit einiger Zeit vor allem bei Studis beliebt, hat dabei eine große Community, die schon eigene Regeln und Fachbegriffe geprägt hat. Nicht immer leicht zugänglich ist das, gerade am Anfang, erzählen die beiden rückblickend. Was Toni vorhin passiert ist, heißt beim Bouldern „Beta-Spraying“.
Infobox:
Beta-Spraying: Beta ist Kletterslang für Tipps, Tricks, Infos und Bewegungsideen zu den Routen und zum Bouldern; Spraying ist dann ungefragtes oder unreflektiertes Ausplaudern.
Routensetzen: Die Kletterrouten bestehen aus vielen farblich unterschiedenen Elementen. Diese werden beim Routensetzen an der Wand angeordnet. Dabei entscheidet sich z. B., welche Techniken notwendig sein könnten, um die Route zu klettern und wie viel Armlänge man an manchen Stellen bräuchte, um den nächsten Griff zu erreichen.
Boulder: engl. Felsbrocken, bezeichnet eine Route, die es zu lösen gilt. Routen sind durch farbliche Unterschiede der Elemente voneinander unterscheidbar.
„Das Doofe ist, du weißt ja nicht mal, ob die Person dir überhaupt sinnvolle Tipps geben kann“, erklärt Hannah, „manche Menschen gehen einfach davon aus, dass ihre Art, die Route zu klettern, für alle anderen gleich funktioniert. Aber Körperbau, Größe, Kraft, Beweglichkeit und so weiter, das macht eben alles einen Unterschied.“ Aber was steckt genau dahinter?
Beim Bouldern geht es nicht nur darum, möglichst geschickt zu sein, oder möglichst kräftig. Jeder Boulder (→Infobox) ist auch immer eine Art Rätsel. Eine Herausforderung, die man auch mit dem Kopf bewältigen muss. Welche Intention steckt also dahinter, wenn du jemandem dabei helfen möchtest? Und welche Annahmen hast du über die andere Person dabei? Was gibt dir das Gefühl, dass deine Hilfe gefragt ist? Kannst du überhaupt sinnvoll unterstützen? Willst du vielleicht Kontakt aufbauen? Oder willst du zeigen, dass du es schon kannst und suchst nach Anerkennung?
„Es hilft, das Muster zu erkennen“
Auch das Leitungsduo des RoXx, Damian Badners und Tim Bartzik, kennt das Problem. Im RoXx hängt ein Schild: „Kein Beta-Spraying“ und in Einstiegskursen wird die „Boulderknigge“ vermittelt. „Die Leitungsebene muss dabei Verhaltensdinge aber auch vorleben, damit sie sich in der Hallenkultur verankern“, erklärt Damian, der selbst aktiv bouldert. „Zu Stoßzeiten haben wir deshalb auch Personal auf dem ‚Floor‘, das aktiv ansprechen kann.“
Dass es den Begriff Beta-Spraying gibt, ist dabei schon eine kleine Errungenschaft. Durch ihn sei es viel leichter, in den Momenten zu erkennen, was genau passiert, und warum das nicht cool ist, stellt Toni fest. Aufhören tue das Beta-Spraying deshalb aber nicht automatisch. Außerdem zeigt er, dass es ein Muster gibt, das auch von Geschlechterrollen geprägt ist.
Das sei auch in anderen Bereichen beim Bouldern zu beobachten, räumt Tim ein. Ein Beispiel ist hier das Routensetzen (→Infobox), das in Sachen geschlechtlicher Vielfalt noch deutlich Ausbaupotenzial habe. Das Routesetting-Symposium, das sich selbst „als Ideenwerkstatt und Community-Host versteht, um Routenbauer*innen zu empowern und zu vernetzen“ und sich dabei explizit an Frauen, inter‑, trans* und nicht-binäre Personen richtet, zeigt aber, dass sich auch hier etwas tut, um bestehenden Geschlechterstereotypen entgegenzuwirken. Das ist eine große Aufgabe, die allerdings nicht an einzelnen Kollektiven hängen bleiben darf und die viel Arbeit erfordert, von der man vielleicht keinen Muskelkater bekommt, deren Effekt aber hoffentlich doch spürbar ist.