Die Ruhe vor dem Sprung
Text: Melina Lindberg
Meine beiden Füße sind an den unteren Brettern festgebunden, sodass ich nicht aus dem stählernen Gebilde rutschen kann. Mit den Händen klammere ich mich an den Griffen fest und die Füße drücke ich so stark es geht nach unten, um nicht herauszufallen. Ich habe Angst. Für eine kurze Zeit lässt mich mein Orientierungssinn im Stich. Mich wieder auf meinen beiden Füßen befindend, besinne ich mich kurz, realisiere die Umgebung und will es gleich nochmal probieren.
Die beschriebene Szene entspringt nicht etwa einem Actionfilm, nein. Der heutige Protagonist ist das Rhönrad und meine Mission ist es, mich in ihm zu drehen und dabei der Schwerkraft zu trotzen.
Wer bis jetzt noch nie etwas davon gehört hat und sich nichts unter dem Rhönradfahren vorstellen kann, sei unbesorgt, denn es gehört eher zu den weniger bekannten Sportgeräten, die es aber in sich haben. Ein Rhönrad besteht aus zwei Reifen, die durch sechs Sprossen miteinander verbunden sind. In der unteren Hälfte des Rades befinden sich zwei Bretter, an denen sich die Turner und Turnerinnen mithilfe von sogenannten Bindungen festschnallen können.
Bis zum Tag meiner Mission konnte auch ich mir nichts unter den Sportgeräten vorstellen, die Friede, Leiter der freien Übungszeit am Hochschulsport, nach und nach in die Halle rollt. Doch ich bin neugierig und will es unbedingt ausprobieren. Nach einem kurzen Aufwärmen und Dehnen geht es auch schon direkt ins Rad, wobei ich erstmal die Szene beobachte, um mir einen Eindruck zu verschaffen.
Genau wie Friede turnt auch Ylva schon seit mehr als zehn Jahren Rhönrad und nimmt regelmäßig an der freien Übungszeit am Hochschulsport teil. Das Rad in Bewegung setzend, springt sie von einer Sprosse zur nächsten, stets darauf bedacht richtig zu greifen, da das Rad sonst über die Finger rollen könnte. Sie hält sich mal hier und mal dort fest und führt dabei waghalsige Sprünge und Drehungen aus. Mal mit dem Gesicht auf den Boden zurollend, oder sich rückwärts um die eigene Achse drehend wieder auffangend, nur um im nächsten Moment einen Überschlag an einer der Sprossen auszuführen. Es sieht so leicht, fast schon schwerelos aus, sodass ich nur staunen kann.
Ylva begeistert an der Sportart, dass es das einzige sich bewegende Turngerät ist und sie nicht nur den eigenen Körper, sondern auch das Rad kontrollieren muss. „Mich fasziniert besonders die Mischung aus Ruhe und Adrenalin, die beim Turnen erzeugt werden kann“, so die junge Turnerin.
Ich frage Ylva und Friede, auf was es beim Rhönradturnen ankommt? „Durch die Freude am Turnen und Kontinuität, was die Übung angeht, folgen Spannung, Kraft und das Gefühl für das Rad ganz von allein“, erzählen mir die beiden Rhönradenthusiasten.
Nach meiner anfänglichen Skepsis hat mich die Neugier dann auch gepackt und ich gehe meine Mission an: Mich einmal im Rad zu drehen, ohne mir dabei schwerwiegende Verletzungen zuzuziehen. Friede steht neben mir und schnallt meine Füße an den unteren Brettern fest, und ich soll loslegen. Ich schaue ihn mit großen Augen an und er gibt dem Rad etwas Schwung. Kurz darauf habe ich mich einmal gedreht. Mich packt der Ehrgeiz und so werden aus einer Drehung zwei, drei, dann vier. Die Herausforderung liegt darin, die Füße die ganze Zeit anzuspannen, damit ich nicht aus dem Rad falle und gleichzeitig den nötigen Schwung aufzubringen, das schwere Rad inklusive mir in Bewegung zu setzten. Obwohl meine gesamten Gliedmaßen schmerzen und ich durch meinen kurzzeitigen Orientierungsverlust kleine Sterne tanzen sehe, macht es einfach nur Spaß. Vom Rhönradfieber gepackt, frage ich mich, warum die Sportart eigentlich so unbekannt ist?
Zum einen könnte dies laut Ylva und Friede daran liegen, dass es ein relativ komplexer Sport ist. Die Rhönräder sind groß und wirken einschüchternd. Zum anderen stellt die Betreuung und die damit zusammenhängende Kapazität des Personals eine Herausforderung dar, da die Turner oftmals eins zu eins betreut werden. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, ist Rhönradturnen auch nicht das erste, was auf meiner Liste zu finden gewesen wäre. Allerdings merke ich, dass es genau das ist, was das Rhönradfahren mitunter ausmacht. Eine Sportart auszuprobieren, die bei vielen irgendwo zwischen Renn- und Rad abgespeichert ist, aber ganz klar durch Vielseitigkeit punkten kann. Das staubige Image hängt dem Rhönrad zu Unrecht an, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass sich das Wagnis ins Rad zu steigen lohnt!
Ich habe vielleicht nicht die Welt gerettet, aber meine heutige Mission erfüllt und kann nur jeder und jedem ans Herz legen, sich raus aus der Uni- rein ins Rad zu trauen und dem etwas besonderen Sportgerät eine Chance zu geben. Wann hat man schonmal die Gelegenheit dazu?
Über die Autorin:
Melina Lindberg studiert im siebten Semester Sozialwissenschaften mit den Fächern Politik, Soziologie und Erziehung. In ihrer Freizeit liest sie gerne, geht laufen, oder ist gewerkschaftlich aktiv.