Zusammen mit Wushu älter werden
Xikai Chen
„Ich finde, wir haben diesen sonnigen Sonntagnachmittag falsch verbracht. Guck Dir mal die anderen an.“ Viele liegen bequem auf den Wiesen der Außenanlagen des Hochschulsports und genießen das schöne, warme Sonnenlicht, manche spielen Ball oder Frisbee. „Die anderen Sportarten machen nur müde. Was wir hier machen, bringt uns auch noch Schmerzen.“ Dehnen. Hart schmerzhaft dehnen. An einer Ecke der Wiese macht eine kleine Gruppe Wushu.
Wushu, eine moderne Sportart der Kampfkunst, die ursprünglich aus China kommt und hierzulande noch nicht sehr bekannt ist, integriert Formen aus verschiedenen traditionellen Schulen und kombiniert sie mit anderen neuen Bewegungen, z. B. akrobatische Elemente, die auch mit den Stilen des Wushu übereinstimmen. Im Vergleich zu dem traditionellen Kungfu hat Wushu zwar nur wenige Jahrzehnte Geschichte, es entwickelt sich aber zu einer internationalen Sportart, die immer mehr Menschen betreiben. In der Organisation des Internationalen Weltverbands für Wushu (IWUF) werden bereits regelmäßig Wettbewerbe ausgerichtet.
Modernes Wushu berücksichtigt weder Selbstverteidigung noch Kampf, deswegen erkennen es manche Anhänger*innen traditioneller Wushu-Stile nicht an. Stattdessen werden die Aspekte der Publikumswirksamkeit, Körperbeherrschung und Dynamik sehr beachtet. Dadurch hat Wushu die Menschen gewonnen, die durch einen Kampfsport am eigenen Körper arbeiten, aber keine gewaltsamen Elemente oder körperliche Konflikte erfahren möchten.
„Am Tag bin ich Forscherin, […] wenn ich am Freitagabend in der Trainingshalle ankomme, bin ich schon die Trainerin geworden, und nicht mehr die Forscherin.“ Sayehdeh, Übungsleiterin im Hochschulsport
„Ich interessiere mich schon immer für Kampfkünste. Aber viele sind so gewaltsam, deswegen habe ich damals noch keine ausprobiert, bis mein Bruder mich eines Tages in eine Wushu-Schule gebracht hat“, sagt Sayehdeh Hussaini (32). „Und das war im Sommer nach meinem Abschluss der Oberschule.“
Sayehdeh kommt aus einer afghanischen Familie im Iran. Zum Beginn ihres Studiums hat sie angefangen, Wushu zu lernen. 2017 ist sie nach Deutschland gezogen, um ihre Promotion zu machen. Kurz danach ist sie die neue Trainerin für Wushu beim Hochschulsport geworden. Mittlerweile arbeitet sie als Post-Doc-Forscherin für Biomedizinische Physik am Max-Planck-Institut. Aber als Trainerin für Wushu macht sie gerne weiter. „Am Tag bin ich Forscherin, aber wenn ich am Freitagabend hierherkomme und mein Fahrrad draußen vor‘m Hochschulsport angeschlossen habe, fühle ich auch den Wechsel“, erklärt sie lächelnd. „Wenn ich durch den Haupteingang und den Flur zur Trainingshalle gehe, kommen die Ideen und Pläne, die ich schon letzte Woche hatte, langsam in den Kopf. Und wenn ich in der Trainingshalle ankomme, bin ich schon die Trainerin geworden, und nicht mehr die Forscherin.“
In der Halle sammeln sich die Teilnehmer*innen für den Kurs und legen gemeinsam die Budomatten auf den Boden. Laufen zum Aufwärmen, Dehnen als Vorübung, danach fängt der erste Hauptteil des Trainings an – die Basistechniken des Faustschlags, des Tretens, des Springens, usw. Jede Sportart schafft eine besondere Atmosphäre in der Trainingshalle. Manche Sportarten verlangen Kooperation im Paar oder in der Gruppe. Dann wird sich aufeinander konzentriert, miteinander kommuniziert und (re)agiert. Wushu ist aber eher ein selbstdisziplinierender Sport – zwar wird im modernen Wushu nicht so oft Meditation betont wie im traditionellen Kungfu, aber aufgrund der Natur dieser Sportart wird viel nach innen gearbeitet, sich auf den eigenen Körper und die eigenen Bewegungen konzentriert. „Was ich interessant finde, ist, dass man sich vergleichen kann und danach mehr anstrengen muss, um das gezeigte Niveau zu erreichen“, sagt Teilnehmerin Sophia. Dazu fügt Daniel, ein anderer Teilnehmer, an: „Zwar ist es schwer, die perfekte Position zu erreichen, aber man hat da eine Richtung, nach der man streben kann.“
Wushu kann Stabilität bieten, sodass manchmal im Chaos des Lebens auf die erlernten Fähigkeiten zugegriffen werden kann. Sayehdeh stimmt dieser Meinung zu: „Wushu ist zwar ein sehr kleiner Teil in meinem Leben, aber es ist auch ein sehr wichtiger Teil. Auch wenn viele andere Sachen nicht funktionieren, würde Wushu mich nicht enttäuschen – es funktioniert immer.“
Auf die Frage, wenn sie eines Tages wegen des Alters nicht mehr so flexibel dehnen und springen kann, lacht Sayehdeh laut. „Dann kann ich mit dem Taichi weitermachen – man kann doch zusammen mit Wushu älter werden.“
Über den Autor:
Xikai Chen, Lehramtsstudent in Englisch und Chinesisch als Fremdsprache und parallel auch Masterstudent in Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie mit dem Schwerpunkt Visuelle Anthropologie. Neben seinen Fachstudien belegt er viele Kurse im Bereich Medien und Kommunikation als Übungen für seine deutsche Sprache als auch für die Kompetenzentwicklung der Kulturvermittlung und der wissenschaftlichen Kommunikation.